Runde Sache – Spezielle Abroller für E-Autos 

Autoreifen sind High-Tech-Produkte par Excellence. An der Schnittstelle von Fahrzeug und Untergrund bieten sie auf einer Kontaktzone der Größe kaum eines DIN A 4 Blattes pro Rad höchste Leistungen in vielen Disziplinen. Ist der Aufgabenkomplex an sich schon diffizil genug, kommen mit dem Systemwechsel zur Elektromobilität noch weitere Anforderungen auf sie zu. 

Ein kurzer Abriss:Zielkonflikte bei Straßenreifen

Jeder Pneu stellt letztlich einen Kompromiss dar. Was gut ist für Zweck X ist schlecht für Ziel Y. Zielgenaues Abwägen in Hinsicht auf den spezifischen Einsatz ist das Gebot.

Gummimischung – Grip gegen Standfestigkeit 

Reifen mit weichen Gummimischungen weisen enormen Grip auf, sie bringen die Beschleunigungs- und Bremskräfte optimal auf die Straße und halten sauber die Spur. Die Kehrseite: sie nutzen sich schnell ab, erzeugen starken Abrieb und erhöhen den Rollwiderstand. Harte Mischungen bewirken genau das Gegenteil.

Laufflächenprofil – viel gegen wenig Gummi, Rillen gegen Blockprofil

Nutzt man die prinzipiell gegebene Kontaktfläche Reifen – Untergrund vollständig aus, was wenig bis keine Profilierung bedeutet (Slickreifen), sind Haftung und Bremsweg bei trockener Witterung optimal, bei nassem Untergrund katastrophal und bei winterlichen Verhältnissen geht gar nichts mehr. Längsrillen im Profil verbessern die Effizienz und vermeiden Aufschwimmen, verschlechtern aber wegen der geringeren Kontaktfläche zum Boden die Bremsperformance. Blockprofile hingegen sind bei weicheren Untergründen, im Gelände und bei Schnee bzw. Eis erste Wahl, aber sie nutzen sich schneller ab, sind ruppig und laut im Abrollen. Längs-Stege und -Rillen in der Reifenmitte sowie Blockprofile mit feinen, tangential eingeschnittenen „Blöcken“ an den Außenseiten in oft asymmetrischer Anordnung bilden den besten und damit vorherrschenden Kompromiss.

Größe, Gewicht, Luftwiderstand und Geräuschentwicklung

Große Räder rollen leichter und erhalten den Schwung der Bewegung besser, kommen aber schwerer „in Schwung“ als kleine.  Große und breite Räder, wie man sie an vielen SUV findet, bieten ein Höchstmaß an Sicherheit, Laufruhe und Komfort, sind aber wahre „Energiefresser“, was wegen deren starker Motorisierung (und dem ohnehin großen Fahrzeug-Luftwiderstand) keine große Rolle spielt. Bei speziellen EV-Reifen, die wegen der schweren Fahrzeugakkus grundsätzlich mehr Gewicht tragen müssen, wird eventuelles Mehrgewicht durch einen komplexen Aufbau vor allem der Reifenwände, der Gewicht wieder einspart, kompensiert. Netto kommen manche EV-Reifen derzeit sogar auf eine Gewichtsersparnis von ca. einem Kg oder mehr pro Reifen.

Längsrillen im Profil vermindern den Luftwiderstand, da die Luft nicht zu hundert Prozent „um den Reifen herum“ fließen muss. Zudem ist es effizient, wenn der Reifen so gestaltet ist, dass beim Abrollen möglichst wenig Luftwirbel entstehen. Bei herkömmlich angetriebenen Autos wirken die Längsrillen vor allem dem Aufschwimmen entgegen.

Ein Reifen ist ein Resonanzkörper, die Luft im Inneren schwingt und überträgt dies als „Wummern“ ins Fahrzeug-Innere. Auch hier spielen die Gummimischung, die Zusammensetzung der Karkasse sowie die Profilierung eine Rolle.

Bei „normalen“ Autos hat die Reifen-generierte Geräuschentwicklung keine große Bedeutung, zumindest was die Fahrgastzelle betrifft, weil diese vom Motorgeräusch zum Großteil verschluckt wird. Für die Umwelt sieht es derweil anders aus. Schon ab Geschwindigkeiten von ca. 20 km/h übersteigen extern die Abrollgeräusche der Reifen die vom Motor erzeugten. Besonders deutlich wird das bei schweren, „sportlichen“ Fahrzeugen wie SUV, in Wohngegenden, bei Kopfsteinpflaster und etwa in Tunneln. Demzufolge gibt es beim neuen EU Reifen-Label neben Angaben zu Energieeffizienz und Nasshaftung auch eine Klassifizierung des Abrollgeräuschs.

Neues EU Reifenlabel 

Zusätzliche Anforderungen bei Elektroantrieb

  • E-Autos sind schwerer als vergleichbare Verbrenner, die Antriebsbatterien bringen ein hohes Gewicht mit sich. Dem muss die Traglast der Reifen entsprechen. Beim Bremsen muss dementsprechend eine größere Masse verlangsamt werden.
  • E-Autos beschleunigen schneller, das Drehmoment steht sofort zur Verfügung. Für den Reifen bedeutet dies stetigen Stress und erhöhten Material-Abrieb.
  • Bei E-Autos ist die Reichweite das entscheidende Kriterium. Deshalb ist effizientes Abrollverhalten von zentraler Bedeutung. Die Profilierung soll möglichst wenig Luftwiderstand erzeugen, d.h. möglichst strömungsgünstig sein. Die Reichweite kann dadurch bis zu 10 Prozent gesteigert werden.
  • E-Autos sind leise Gesellen, das Abrollgeräusch gewinnt zunehmend an Bedeutung. Profil und Schalldämmung im Reifen selbst gewinnen an Bedeutung.
  • E-Autos stehen explizit für Nachhaltigkeit, die Reifen dürfen da nicht nachstehen

Grundsätzlich braucht es keine speziellen Reifen für E-Autos. Es gibt weder eine Pflicht hierzu noch ein entsprechendes offizielles Signet. Von den modernen Autoreifen sind alle „e-geeignet“, solange sie ein entsprechendes Format haben, vor allem aber den entsprechenden Last-Index aufweisen (Bezeichnung meist heavy load, XL, High Load oder ähnlich). Nur im Prüfungsfach Effizienz reichen sie nicht ganz an die spezialisierten Kollegen heran. Erst seit kurzem werden BEV vermehrt mit speziellen EV-Reifen erstausgerüstet.

Conti-eContact
Michelin ePrimacy
Hankook iON evo

Die Reichweiten-Optimierung ist an sich nicht neu. Anstatt: „wie viel Sprit kann ein Reifen X auf eine Strecke Y sparen“ (Stichwort: Leichtlaufreifen) heißt es nun: „um wie viele Kilometer komme ich mit einem speziellen Reifen weiter“. Verschoben hat sich eigentlich nur die Priorität der Frage.

Dämpfeinlagen 

Um dem Schwingungslärm bei BEV in der Fahrgastzelle Einhalt zu gebieten, werden, neben Maßnahmen bezüglich der Gummi-Mischung und Profilierung auch Schaumstoff-Einlagen im Reifeninneren verwendet. Sie dämpfen bzw. verringern die Bewegung der Luftmasse in den Pneus.

Schaumstoff-Einlage bei Continental

 Euro-Norm 7 Feinstaub von Reifen 

Jährlich landen EU-weit ca. 500.000 Tonnen Reifenabrieb auf den Straßen, anders gesagt: durchschnittlich 120 g je Auto auf 1.000 km. Wobei der Abrieb nicht nur Gummi- und Mikroplastik-Partikel umfasst, auch Sand, Teer und organische Stoffe (z.B. Laub, Erde) tragen zur Gesamtmasse bei. Das Konglomerat dieser Stoffe wird bei Regen von der Fahrbahn gewaschen und landet entweder in der kommunalen Kanalisation oder auf den Grünstreifen. Rund ein Drittel aller Mikroplastik-Emissionen geht auf den Reifenabrieb zurück.

Die Euro 7 Norm, die ab 2025 für Pkw und leichte Transporter gelten soll, schreibt einheitliche, d.h. von der Antriebstechnik unabhängige Grenzwerte vor, die auch Feinstaubemissionen berücksichtigen. Erstmals sind damit auch reine Elektrofahrzeuge betroffen. 

Da der Schmutz von Gummiteilchen und aufgesammeltem Material (dazu noch Abrieb der Bremsscheibe und Bremsbeläge) vor allem nach hinten/oben wegfliegt, sind derzeit schon Auffang- und Absaugeinrichtungen für den Teilchenstrom in der Erprobung. So hat kürzlich das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) mit dem ZEDU 1 einen fast gänzlich emissionsfreien Elektroauto-Prototypen mit „Staubsauger“ vorgestellt.

Prototyp eines fast vollständig emissionsfreien Fahrzeugs  © DLR

Reifen halten heutzutage über Distanzen von 40 bis 60 tausend Kilometer. EV-Reifen, zu deren Genen eine gute Umweltbilanz gehört, sollen noch länger halten und in hohem Maße recyclingfähig sein. Dieses Kriterium nimmt in der Entwicklung einen immer höheren Stellenwert ein.

Am Ende der Nutzung

Reifen enthalten viele Komponenten und bestehen aus vielen Materialien und Material-Mischungen. Bis zu 25 Komponenten, von Textileinlagen in der Karkasse bis zum Stahldraht im Reifenwulst, und bis zu 12 Gummimischungen sind in einem Reifen verbaut bzw. enthalten. Was also tun, wenn das Ende der Lebensdauer eintritt. Un- oder kaum verändert, lassen sich die Pneus auf verschiedene Weise weiternutzen.

Typische Nachnutzungen sind ihr Einsatz als Stoßfänger z.B. an Rennstrecken und im maritimen Bereich, als Beschwerung der Abdeckung agrarischer Futtermittel, oder als Pflanzgefäße sowie in ähnlich kreativen Einsatz-Szenarien. Dabei ist zu beachten, dass „lagernde“ Altreifen kontinuierlich CO2 in die Umgebung abgeben, nicht jede Nutzung ist streng genommen legal.

 Reifen – Materialcocktail (Continental)

Recycling von Reifen

Schreddern und Verheizen

Aus Altreifen auf mechanischem Weg gewonnenes Gummigranulat wird verwendet als Belag für Sportplätze, als Dämmstoff und vieles mehr. Es bildet auch den Ausgangsstoff für die Runderneuerung von Reifen, ein Einsatz, der viel Rohstoff, Energie und Wasser spart, aber aufgrund technischer Probleme bei Pkw nicht sehr verbreitet ist. Häufig werden Altreifen großtechnisch verfeuert; dabei haben sie eine bessere Energiebilanz als Steinkohle und eine in etwa gleiche Umweltbilanz. Weshalb es verstärkt Entwicklungen gibt, Altreifen weiter zu verwerten, indem sie in ihre Bestandteile (Öl, Stahl, Textil usw.) zerlegt werden und sich als Sekundärrohstoffe in Kleidung oder Outdoor-Ausrüstungen und vielem mehr wiederfinden. 

Rückgewinnung von Rohstoffen

Es ist oft schwierig, Verbundkunststoffe, die aus einem Materialmix verschiedener Plastiken oder anderer Stoffe mit unterschiedlicher molekularer Struktur bestehen, für das Recycling sortenrein zu trennen. So werden bislang nur 68 Prozent der in Deutschland pro Jahr anfallenden Altreifen-Menge von 600.000 Tonnen dem Recycling zugeführt, 32 Prozent werden verfeuert. Würden alle Altreifen recycelt, könnten aus dem Reifengummi 200.000 t Öl zurückgewonnen und so 500.000 t CO2-Ausstoß vermieden werden.

Um auch hohen Produktanforderungen aus Altreifen-Material entsprechen zu können, eignet sich ein in diesem Bereich ganz neues Verfahren: die Pyrolyse. BASF hat mit zwei Unternehmen, die Altreifen diesem Verfahren unterziehen, 2022 Lieferverträge über das so gewonnene Öl unterzeichnet. Die großtechnische Umsetzung wird gerade entwickelt.

Rohstoff- und Energie-intensiv: Die Produktion von EV-Reifen

Die Herstellung von Autoreifen wird insgesamt im Lauf der Zeit immer „grüner“. Neue Technologien drücken den Rohstoff- Wasser- und Energieverbrauch. Bei rund 1 Mrd. produzierten Reifen weltweit pro Jahr stellt sich die Frage vor allem nach der Herkunft des Rohkautschuks. Dieser wird v.a. in Lateinamerika und Südostasien in riesigen Plantagen (Monokultur) geerntet. Flächenverbrauch, Einbruch der Biodiversität, lange Transportwege und die Arbeitsbedingungen vor Ort sind die kritischen Faktoren. Eine Teil-Lösung zeichnet sich durch den Ersatz von Rohkautschuk aus dem Kautschukbaum durch Gewinnung der Milch aus Löwenzahn-Wurzeln und anderen Wolfsmilch-Gewächsen ab. 

Die elf größten Reifenhersteller haben sich in der Initiative Tire Industry Project (TIR) zusammengeschlossen und sich verpflichtet, die Umweltauswirkungen zu reduzieren, etwa durch den Ersatz von fossilem Öl durch Pflanzenöle und Hilfsstoffe ebenfalls auf Pflanzenbasis (z.B. Reisspelzen) sowie den Einsatz von PET aus Einweg-Flaschen bzw. Aluminium aus Getränkedosen. Hersteller wie Continental, Goodyear, Hankook, Michelin und Pirelli verfolgen dabei ein umfassendes Gesamtkonzept, das Herstellung, Logistik, eine verlängerte Nutzungsdauer, Wiederverwendung und Recycling beinhaltet. Das gilt für alle Reifen, aber in besonderem Maße für die speziell für Elektrofahrzeuge entwickelten.

Reifen – die nächste Generation

Solange Autos ebenerdig unterwegs sind, bleibt die Reifenfrage virulent. Daran, dass die Pneus leichter und umwelteffizienter werden, arbeiten derzeit alle großen Hersteller. Insbesondere möchte man die Luft aus den Reifen lassen, die physikalischen „Aufgaben“ der Luft sollen demnächst flexible Tragstrukturen übernehmen, die leichter sind und teilweise sogar 3D-gedruckt werden können. Reifen, Felgen und Naben werden zu einem Teil. Daneben könnten die Reifen selbst smart werden, Sensoren erfassen Daten zur Fahrsituation und Untergrund und verändern die Aufstandsfläche. Ganz exotische Visionen stellen Reifen bzw. Räder als Kugeln vor, auch die Kompostierbarkeit der zukünftigen Räder wird schon getestet.

Michelin: lamellenartige flexible Tragstruktur
Michelin: lamellenartige flexible Tragstruktur
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Michelin: Stoßabsorbierende Wabenstruktur

Text: Werner Köstle
Bilder: Continental, Hankook, Pirelli, Michelin, DLR, Bridgestone, Citroën/Goodyear, Autor

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